Heidelberg – Vier Wanderfalkenküken haben sich aneinander gekauert und zu einem einzigen Puschel verknotet. Ein Windhauch plustert ihren Flaum auf, Sonnenstrahlen blitzen durch die Dachluke. Megadrollig?
Nun ja: Um die lieben Kleinen herum liegen Spuren ihres großen Fressens – Federn und Knochen von Tauben, die sie zerfetzt und verspeist haben. Bis zu 2600 Menschen pro Tag schauen den Falkenbabys an heimischen Bildschirmen beim Kuscheln und Schlemmen zu.
Beobachtung rund um die Uhr
Die Falkenküken leben zurzeit mit ihren Eltern auf 65 Metern Höhe im Turm der
Heidelberger Heiliggeistkirche. Drei Webcams sind rund um die Uhr auf sie gerichtet; zwei auf den Nistkasten, eine auf den Einflug. Die Fangemeinde ist riesig. Zuschauer in China und Australien, den USA, Belgien, Polen und ganz Deutschland verfolgen das Geschehen. «Auch ganz viele Frauen sind fasziniert von diesen groben Vögeln, die sich ausschließlich von anderen Vögeln ernähren», sagt Hans-Martin Gäng, der das Projekt betreut. Täglich teilen die Falkenfreunde ihre Beobachtungen im Gästebuch seiner Homepage.
Damit sind sie nicht alleine: Neben Greifvögeln lassen sich auch Fledermäuse, Störche, Kormorane oder Siebenschläfer im Netz ausspähen, weil zum Beispiel Umweltschutzverbände Kameras aufgestellt haben. Gäng, ein pensionierter Lehrer, hat in Heidelberg vor mehr als 20 Jahren mit Schülern einen Nistkasten auf dem denkmalgeschützten Turm angebracht – Wanderfalken brüten normalerweise in Felswänden und siedeln sich auch in ähnlich hohen Ersatzangeboten an. Seitdem kam jedes Jahr ein Vogelpaar zur Brut, insgesamt 65 Wanderfalkenjungen sind geschlüpft. Ende Februar legte das Weibchen in diesem Jahr ihre Eier ab, am 6. April kroch der erste Knirps durch die Schale. Ende Mai werden er und seine Geschwister ausfliegen.
Anfangs übertrug eine Videokamera die Bilder aus dem Turm lediglich ins städtische Rathaus. Seit der Installation der Webcams können Tierfreunde auf dem ganzen Globus vom Sofa aus Brutzeit und Aufzucht miterleben. Für Gäng ist die Technik ein Segen. «Der Mensch kann so seine Freude an wilden Tieren haben, ohne sie zu stören und in ihrer Wesensart zu verletzen», schwärmt er. Falknereien und Zoos dagegen hält er für wenig artgerecht.
Ungewöhnliche Nähe zu den Tieren
Roland Borgards zufolge spiegeln Webcams die Faszination einer unberührten Natur – und triggern voyeuristische Neigungen. «Man beobachtet etwas, das eigentlich nicht für die eigenen Augen gedacht ist», sagt der Literaturwissenschaftler von der Universität Frankfurt, der zur Rolle von Tieren in Kultur und Literatur forscht. Seiner Einschätzung nach fesseln fremde Nester vor allem, weil Tiere starke Gefühle beim Beobachter provozieren: Ekel, Schrecken oder Begeisterung über ihre Schönheit. Und weil sich darin Metaphern für menschliches Zusammenleben abspielen – mit Liebe, Gewalt und familiären Beziehungen.
Laut Borgards ermöglichen Webcams eine Nähe, die sonst nicht möglich wäre. «In das Nest eines Turmfalkens kann ich nicht ohne Weiteres hineinklettern», sagt er. Zugleich versteht er das Betrachten über Computermonitore als typisches Phänomen der modernen Welt, in der Menschen Vögel meist nur noch medial vermittelt zwitschern hören statt beim Streifen durch einen Wald. Borgards: «Kommunikationsaugenblicke von Tier und Mensch sind heute von einer unglaublichen Distanz geprägt.»
Die populären Kätzchen-Videos, die regelmäßig Internet-User in Verzückung versetzen, folgen ihm zufolge einer anderen Dramaturgie: Die Filmchen sind geschnitten und inszenierter als Live-Aufnahmen. Und bei den Hauptfiguren handelt es sich um Kulturprodukte – um Haustiere nämlich, die zu Schauspielern gemacht werden.
Wenn die Küken nicht gerade Tauben zum Mittagsmahl zerpflücken, passiert dagegen in Wanderfalkennestern ziemlich häufig einfach: nichts. Actionarmut in Dauerschleife. «Das hat etwas Meditatives», sagt Borgards. «Es ist eine Gegenerfahrung zur auf Geschwindigkeit getrimmten Medienwelt.»
Webcam-Übertragung ist wie Fernsehen
Die Zuschauer selbst verfolgen diese Eintönigkeit mit eigener Ausdauer. «Ich kenne Leute, die sitzen zwei Stunden davor», sagt Friedemann Tewald vom Naturschutzbund (Nabu). Auch seine
Fellbacher Ortsgruppe betreibt eine Wanderfalken-Webcam auf einem Bürohochhaus der Stadt im Rems-Murr-Kreis. Für das Publikum sei das «wie Fernsehen», sagt er. Viele Nutzer hätten das Browserfenster aber auch während der Arbeit geöffnet und linsten aus dem Augenwinkel darauf.
Mitunter allerdings endet die Vorstellungsreihe für die Heimkinos jäh. Am Hermsdorfer See bei Berlin hat der Nabu eine Kamera im Nistkasten eines Waldkauz-Paares eingerichtet. Die Eier waren gelegt, die Fans fieberten dem Schlüpfen entgegen. Pustekuchen: Ende März stieg ein Waschbär ein, vertrieb das Waldkauzweibchen und fraß die Eier auf.
Fotocredits: Sebastian Gollnow
(dpa) (dpa)