(dpa/tmn) – Besitzer unkastrierter Rüden kennen die verächtlichen Blicke anderer Halter, wenn ihr Hund weit über das erste Lebensjahr hinaus, der Männlichkeit unberaubt, durch den Park trabt. Regelrechte Bekehrungsversuche gibt es da.
Er lebe länger, glücklicher, bleibe gesünder und verhalte sich fortan mustergültig, falls man ihn kastriere, hört man. Und: Es könne doch außerdem nicht schaden. Dabei ist die Studienlage längst nicht so eindeutig.
Nur ein Mythos?
«Dass kastrierte Hunde länger leben, hat eine große US-Studie ergeben. Leider findet in dieser die Besitzerhaltung keine Berücksichtigung», sagt Prof. Sandra Goericke-Pesch von der Tierärztlichen Hochschule in Hannover. «In den USA deutet das Durchführen einer Kastration beim Tier vermutlich auf eine erhöhte Bereitschaft des Halters hin, zum Tierarzt zu gehen. Das wirkt sich natürlich positiv auf die Lebenserwartung aus.» Die Ergebnisse sind also wenig hilfreich. Und die Behauptung, die Rüden lebten länger, sei nicht mehr als ein Mythos, der sich hartnäckig hält.
Im Gegenteil: Es gibt sogar Hinweise darauf, dass bestimmte Krebsrisiken steigen. Außerdem wird die Psyche des Hundes beeinflusst. Natürlich gibt es aber auch triftige Gründe für den Eingriff, wie gesundheitliche Probleme oder hypersexuelles Verhalten.
Kastration auf Probe
Seit etwa zehn Jahren gibt es neben der Radikallösung auch die Möglichkeit der Kastration auf Probe, mithilfe eines Hormonchips, der für ein halbes oder ein Jahr die Testosteron- und damit auch die Spermienproduktion stoppt. Kaum größer als ein Reiskorn entfaltet der Suprelorin-Chip seine Wirkung nach etwa sechs Wochen. Die Hoden schrumpfen – und mit ihnen das Ego des Hundes. «Die Dominanz des Hundes gegenüber anderen Rüden wird zu 45 bis 65 Prozent positiv beeinflusst», weiß Prof. Goericke-Pesch.
Vor allem bei aggressiven Rüden kann das tatsächlich helfen. «Das tut es allerdings nur, wenn die Ursache sexuelle Motivation ist», weiß Andrea Buisman, Ausbildungsleiterin für Hundetrainer bei Martin Rütter. Ob die Probleme, die ein Hund macht, sexuell motiviert sind oder der Hund überhaupt sehr triebgesteuert ist, kann ein Hundetrainer feststellen. Und zwar indem er das Verhalten des Tieres beobachtet: Interessiert er sich beim Spaziergang mehr für die Gerüche von Hündinnen als für alles andere? Leckt er exzessiv am Boden? Überhört er die Rufe des Besitzers, weil er zu beschäftigt ist mit Schnüffeln? Wie geht er mit Artgenossen um?
Schrumpfendes Selbstbewusstsein
Aber auch, wenn ein weniger aggressiver Rüde sehr triebgesteuert ist, birgt das weitere mögliche Probleme: Er kommt vielleicht nicht mehr zur Ruhe, frisst nicht mehr und interessiert sich für nichts anderes mehr als das weibliche Geschlecht. Auch das kann ein triftiger Grund für eine Kastration sein. Schwierig wird es allerdings, wenn ein Hund ohnehin schon unsicher ist und deshalb nicht mit Artgenossen umgehen kann. Dieses Problem verstärkt sich mit dem schrumpfenden Selbstbewusstsein ohne Testosteron. «Womöglich geht er dann erst recht auf Konfrontation», so Buisman. Ein Risiko.
Bei Hodenkrebs ist die chirurgische Entfernung der Hoden alternativlos. Doch bei fast allen anderen Faktoren, gerade dem Verhalten, raten Tierärzte und Trainer zunächst zur Lösung auf Zeit. «Genau genommen ist laut Tierschutzgesetz die grundlose Entnahme von Organen sogar verboten. Der Tierarzt ist also verpflichtet beim Rüden zuerst zu einem Chip zu raten», so Prof. Goericke-Pesch.
Kosten abwägen
Dass Tierärzte häufig zu leichtfertig einen chirurgischen Eingriff durchführen, hat auch finanzielle Gründe. Für Halter und Tierarzt. Immer wieder einen 100 bis 150 Euro teuren Chip zu setzen, auch wenn das theoretisch unbegrenzt möglich ist, geht ins Geld. «Eine chirurgische Kastration kostet je nach Größe des Rüden etwa 350 bis 400 Euro», sagt Katja Wehrend, Fachtierärztin für Zuchthygiene und Biotechnologie der Fortpflanzung aus Niederkleen in Hessen.
Das Implantat wirkt wie die chirurgische Kastration, mit all ihren Begleiterscheinungen, wie etwa veränderter Stoffwechsel, verändertes Verhalten oder Harninkontinenz. Halter müssen also auch hier aufpassen, dass der Hund nicht zu viel Gewicht auf die Waage bringt und dürfen sich nicht wundern, wenn das Tier etwas phlegmatischer wird. Manchmal entspricht aber genau das der erwünschten Wirkung.
Fotocredits: Inga Kjer (dpa)